
RAINBOW – Wie ein Regenbogen uns bei der Selbstreflexion helfen kann
Maximilian Riegel (Insta: mr_maxriegel) ist Sozialarbeiter, Sozialpädagoge und Autor. Er arbeitet als Sozialarbeiter im psychosozialen Bereich und unterrichtet an verschiedenen Hochschulen mit den Schwerpunkten Kommunikationspsychologie und Beratung. In diesem Gastbeitrag erzählt er von seinem Buch „Der RAINBOW-Ansatz — Ein psychologisches Modell zur Selbstreflexion“.
Natürlich ist diese Überschrift mit einem kleinen Augenzwinkern zu
verstehen, denn schließlich hilft uns ein Regenbogen nicht dabei, uns
selbst zu reflektieren. Zumindest nicht jener Regenbogen, der am Himmel
erscheint, wenn Sonne und Regen zusammenkommen. Im letzten Jahr durfte
ich jedoch den „Regenbogen” neu interpretieren und in meine Gedanken in
einem Buch („Der RAINBOW-Ansatz – Ein psychologisches Modell zur
Selbstreflexion”) zusammenfassen. Welche Möglichkeiten uns die Metapher
des Regenbogens bietet, um uns selbst besser kennenzulernen und worum es
dabei genau geht, erfahrt ihr in diesem Blogeintrag.
Warum eigentlich Selbstreflexion?
Vielleicht stellst du dir gerade die Frage, was Selbstreflexion
eigentlich ist. Selbstreflexion kann man verstehen wie einen Spiegel,
der dein eigenes Spiegelbild reflektiert, wenn du hineinblickst. Bei der
Selbstreflexion (manche nennen es auch Selbstreflektion) geht es demnach
darum, sich selbst anzugucken – jedoch nicht dein Äußeres, sondern dein
Innenleben. Es geht bei der Selbstreflexion also darum, dich selbst
besser kennenzulernen und hinzuschauen, welche Gedanken, Gefühle,
Bedürfnisse, Werte, usw. eigentlich für dich wichtig sind und dich im
Alltag beschäftigen. Aber warum ist das wichtig?
Nun, das kann ganz kleine alltägliche Situationen betreffen, wie
beispielsweise die Frage danach, was du heute gerne anziehen würdest
oder ob du am Abend lieber Sushi oder Pizza essen möchtest. Es kann aber
genauso gut Situationen betreffen, die durchaus tiefgreifender sind, wie
etwa:
- Was ist mir eigentlich wichtig in meinem Leben?
- Was leitet mein persönliches Handeln?
- Auf welcher Grundlage treffe ich meine Entscheidungen?
- Welche Erwartungen, die an mich gestellt werden, muss ich erfüllen?
Gerade als queere Person (und da ich selbst betroffen bin, weiß ich,
wovon ich rede) stellt sich immer wieder die Frage nach dem „Wer bin ich
eigentlich?”. In Zeiten, in denen wir uns freier und selbstbestimmter
als noch vor einigen Jahrzehnten über unsere Geschlechtsidentität,
unsere sexuelle Orientierung und unsere Beziehungskonzepte entscheiden
können, ist die Auswahl an individuellen Möglichkeiten fast unbegrenzt.
Diese Freiheit ist ein großes Privileg, doch gehen damit auch einige
Herausforderungen einher, wie beispielsweise das Gefühl, sich in dieser
fast unbegrenzten Auswahl an Möglichkeiten orientieren, entscheiden oder
festlegen zu müssen.
Ich verstehe Selbstreflexion übrigens als Prozess, der niemals so
richtig endet und lebenslang von Bedeutung ist. Es kann beispielsweise
sein, dass es mir heute noch wichtig ist, mich über meine Kleidung zu
definieren und in einer Gruppe von Menschen herausstechen zu wollen,
während ich morgen meinen Fokus vielleicht eher darauf legen möchte,
nicht angesprochen zu werden, mich eher zurückhaltend zu verhalten und
unauffällig zu kleiden. Beides ist okay und jeder Mensch hat das Recht,
sich auch umentscheiden zu können. Fakt ist: Es ist und bleibt eine ganz
individuelle Entscheidung – jeden Tag aufs Neue!
Und was hat der Regenbogen damit zu tun?
Wenn wir davon ausgehen, dass Selbstreflexion ein ewig währender Prozess
ist, der sich immer ein bisschen verändern kann und sich somit im Wandel
befindet, dann könnte man ja meinen, dass es eigentlich egal ist, sich
selbst zu reflektieren, oder? Nun, das sehe ich etwas anders!
Schließlich ist es doch schön – um mal bei dem Beispiel mit dem
Abendessen zu bleiben – wenn man auch wirklich das Sushi bekommt, für
das man sich entscheidet und nicht einfach Kartoffelsalat vorgesetzt
bekommt, den man gar nicht will. Der Vergleich Sushi vs. Kartoffelsalat
klingt jetzt vielleicht ein bisschen platt, aber am Ende des Tages
können wir einen Großteil zur Gestaltung unseres eigenen Lebens
beitragen. Und wenn es nicht um die Frage Sushi oder Kartoffelsalat
geht, sondern um Themen wie Gleichberechtigung, Diskriminierung oder die
Mitbestimmung in einer Demokratie, dann merkt man schnell, dass es
wichtig ist, sich im Klaren darüber zu sein, was man denn eigentlich
möchte.
Das soll jetzt kein Downer sein, aber an dieser Stelle möchte ich
nochmal ausdrücklich sagen, dass es gerade für queere Menschen und
andere benachteiligte Gruppen vielfältige strukturelle Diskriminierungen
gibt, die uns leider dazu zwingen, häufig mehr kämpfen zu müssen als
Menschen einer privilegierten Dominanzgesellschaft. Trotzdem bin ich der
festen Überzeugung, dass wir unsere Fähigkeiten nutzen können und
sollten, um unser eigenes Leben und unsere Umwelt konstruktiv
mitzugestalten. Und der erste Schritt hierfür ist meiner Meinung nach,
dass man sich darüber bewusst sein sollte, was man eigentlich braucht
und möchte.
Der Regenbogen ist – wie du vielleicht weißt – ein häufig auftretendes
Symbol in der queeren Community. Er spiegelt mit der Vielfalt der Farben
die Vielfalt der sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten
wider und ist damit ein Sinnbild für Diversity. In meinem RAINBOW-Ansatz
ist dies ein wichtiger Aspekt, weil wir alle Menschen komplett
unterschiedlich sind und das in vielerlei Hinsicht. Man kann sagen, dass
wir letzten Endes alle genauso bunt sind, wie ein Regenbogen, was sich
an verschiedenen Beispielen zeigen lässt, zum Beispiel:
- Wie bin ich aufgewachsen und welche Beziehung habe ich zu meiner
Familie? - Was habe ich (bewusst oder unbewusst) über das Queer-Sein gelernt? Und
was nicht? - Wie steht meine Peergroup zum Thema Queer-Sein und werde ich dort
akzeptiert? - Welche Diskriminierungskategorien (Rassismus, Klassismus, Ableismus,
etc.) erfülle ich noch?
Im RAINBOW-Ansatz geht es darum, genau diese Vielfalt zu feiern und
nicht (wie wir es von der Gesellschaft häufig erzählt bekommen) darum,
dass wir möglichst angepasst sind. An dieser Stelle möchte ich dir also
schon mal mitgeben, dass du alles, was du mitbringst, akzeptieren
solltest, weil du genau so in Ordnung bist, wie du bist. Solange du
keine anderen Menschen mit deinem Handeln verletzt oder ihnen schadest,
ist alles absolut legitim, was du tust. Also lass dir bloß von niemandem
etwas anderes erzählen – feiere deine Vielfalt und Individualität!
RAINBOW – warum eigentlich nicht „Regenbogen[“]?
Das ist in der Tat eine gute Frage! Man hätte ja einfach sagen können,
dass man bei dem Wort Regenbogen bleibt und das nicht zwangsläufig ins
Englische übersetzen muss, oder? Nun, das ist teilweise richtig, denn
hinter RAINBOW steckt nicht nur die englische Bezeichnung für den
Regenbogen, sondern auch ein Akronym. Das bedeutet, dass jeder Buchstabe
in RAINBOW für einen Aspekt steht, den man – du erinnerst dich: es geht
ja hier um Selbstreflexion – reflektieren kann. Das bedeutet, dass
RAINBOW eine Art Leitfaden ist, den du nutzen kannst, um zu schauen, wo
du bei den einzelnen Punkten gerade in deinem Leben so stehst. Die
einzelnen Teile von RAINBOW kann man so zusammenfassen:
Ressourcen: Hierbei geht es darum, dass wir uns über unsere eigenen
Ressourcen bewusst werden, also alle Fähigkeiten, Stärken und
Kompetenzen, die wir in uns selbst tragen. Viel zu häufig schauen wir
auf das, was nicht gelungen ist, anstatt uns einfach über das zu freuen,
was gut läuft. Von einer Defizitorientierung hin zu einer
Ressourcenorientierung ist demnach meiner Ansicht nach etwas
Wünschenswertes.
Autonomie: Damit ist gemeint, dass wir uns selbst gut nehmen können,
was wir brauchen und dass wir auch für uns selbst einstehen können.
Gerade queere Menschen werden in ihrer Autonomie häufig (z. B. durch
Mobbing) ausgegrenzt und somit deutlich eingeschränkt, weshalb wir
meiner Ansicht nach immer im Blick behalten sollten, wie wir gut
handlungsfähig werden oder bleiben.
Integration: Dieser Punkt ist ein bisschen schwieriger zu verstehen
und meint im Endeffekt, dass wir als Menschen aus verschiedenen Aspekten
bestehen, die uns zu einem „Großen und Ganzen” machen. Das bedeutet,
dass alle Gedanken, Gefühle, Einstellungen, Vorurteile, Werte,
Bedürfnisse, Ängste, Trigger, Erfahrungen, etc. ganz individuell sind
und uns formen, so wie wir sind.
Neuentdeckung: Das kennst du vielleicht, wenn du dich an deine
Kindheit zurückerinnerst. Vielleicht hast du gerne Spiele gespielt, die
du heute nicht mehr spielst, weil dich Schule, Studium oder Ausbildung
zu sehr beanspruchen oder du hast gewisse Freund*innen total lange
nicht mehr gesehen, obwohl du sie vermisst. Hierbei geht es darum, diese
„alten” Themen wieder zu finden und ein Stück weit neu zu entdecken.
Bedürfnisse: Bedürfnisse zeigen dir an, was du gerade brauchst und
können total vielfältig sein. Sie reichen von Grundbedürfnissen (z. B.
Hunger oder Durst) über soziale Bedürfnisse (z. B. wenn du Lust hast,
etwas Schönes mit Freund*innen zu unternehmen) hin bis zu ganz
individuellen Bedürfnissen, etwa deinen Berufswünschen oder wie du dir
eine Beziehung zu einem*einer Partner*in vorstellst.
Organisation: Das ist auch ein bisschen schwerer zu verstehen und
meint im Endeffekt, dass wir alle in Gruppen „organisiert” sind. Das
heißt, dass wir je nach „Organisation” eine etwas unterschiedliche Rolle
spielen, also z. B. bist du als Kind deiner Eltern eine andere Person
als vielleicht als beste*r Freund*in oder als Partner*in.
Werte: Grundsätzlich bezeichnen Werte etwas, was uns in unserem
Handeln leitet und etwas ausdrückt, was dir besonders wichtig ist. In
einer Beziehung kann ein Wert zum Beispiel für die einen „Treue” sein
und für die anderen eher der Wert „Freiheit” im Fokus stehen. Je nach
Wert wird sich die Beziehung dann möglicherweise eher monogam oder als
offene Beziehung formen, woran du erkennen kannst, dass es einen großen
Zusammenhang zwischen Werten und Handlungen gibt.
Und in der Praxis?
In der Tat war das alles jetzt sehr kurz zusammengefasst und
möglicherweise ein bisschen theoretisch. Ich glaube aber, dass dir ein
bisschen deutlicher geworden ist, welchen Einfluss das Thema
Selbstreflexion auf dein, mein, unser aller Leben hat. Um dich aber
jetzt nicht ganz alleine zu lassen mit so viel Theorie, hier noch ein
paar Fragen, die du dir selbst mal stellen kannst, um dich ein bisschen
zu reflektieren. Vielleicht kannst du dir ja eine halbe Stunde Zeit
nehmen und diese Fragen einfach für dich beantworten und nachschauen,
was du über dich rausfindest:
- Was kann ich besonders gut und was macht mir besonders Spaß?
(Ressourcen) - In welchen Situationen fühle ich mich besonders aktiv und
selbstbestimmt? (Autonomie) - Welche Rolle spielen Körperlichkeit, Emotionen, soziale Kontakte, usw.
in meinem Leben? (Integration) - Welche Menschen würde ich gerne mal wieder treffen oder welchen
Hobbies würde ich gerne mal wieder nachgehen? (Neuentdeckung) - Was würde ich jetzt gerade am liebsten machen und warum wäre mir das
so wichtig? (Bedürfnisse) - Welche Rolle spiele ich in meiner Familie / in der Schule / der
Ausbildung / im Studium / in meinem Freund*innenkreis, etc.?
(Organisation) - Was ist mir besonders wichtig im Leben und warum handle ich so, wie
ich es tue? (Werte)
Und, wie ging es dir bei der Beantwortung der Fragen? Was ist dir leicht
gefallen zu beantworten oder was vielleicht eher schwerer? Was wusstest
du schon? Was war vielleicht neu für dich und hat dich überrascht?
Falls du die Fragen für dich beantwortet hast, weißt du jetzt, was
Selbstreflexion bedeutet und ich hoffe natürlich, dass dir das einen
kleinen Impuls gibt, ab und zu mal ein bisschen tiefer in dich
hineinzuhören, wie es dir eigentlich gerade so geht, was du gerade so
brauchst, ob du dich gerade wohlfühlst, usw. Unabhängig davon, ob du
noch zur Schule gehst, eine Ausbildung bzw. ein Studium absolvierst oder
schon im Berufsleben stehst: Fakt ist, dass es wichtig ist, ab und zu im
Leben innezuhalten und sich wirklich bewusst die Zeit dafür zu nehmen,
sich zu fragen, wo man gerade so steht. Und dafür kann Selbstreflexion
ein wichtiges Werkzeug sein.
Ich bin der festen Überzeugung, dass – wenn wir uns alle ein bisschen
mehr reflektieren und besser kennenlernen würden – es uns auf jeden
Fall, sowohl persönlich als auch gesellschaftlich besser gehen würde.
Nur wenn es uns selbst gut geht und wir uns bewusst über unsere eigenen
Gefühle, Bedürfnisse, Werte usw. sind, können wir diese auch bei anderen
empathisch und wertschätzend wahrnehmen bzw. darauf eingehen.
Geh also gerne auch mal mit deinen Freund*innen, Bekannten, Eltern oder
anderen Menschen, die dir wichtig sind, ins Gespräch über diese Fragen
und ich bin mir sicher, dass du viele Dinge über sie erfahren wirst, die
du vorher nicht wusstest. Vielleicht verstehst du dann auch nochmal
besser, warum die Menschen in manchen Situationen so reagieren, wenn sie
es tun oder warum ihr vielleicht immer wieder dieselben
Missverständnisse habt. Ich plädiere für mehr Austausch, Kommunikation
und Offenheit über diese Themen, weil sie uns – und da bin ich mir
sicher – einander näherbringen und einen Austausch im Dialog
ermöglichen. Und das ist doch schließlich das, worum es im Leben geht:
die Beziehung zu anderen Menschen, in der wir gemeinsam wachsen und
lebendiger werden können.
Lasst uns also gemeinsam genau hinschauen, sowohl bei uns selbst, als
auch bei anderen. Mit einem wohlwollenden Blick (auch hier gilt: auf uns
selbst UND auf die anderen Menschen) können wir einen wichtigen ersten
Schritt gehen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Link zum Buch:
[https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/A1068994566]{.underline}